„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Facebook ist Avantgarde. Nicht nur mit dem Angebot eines betriebsfinanzierten „Social Freezing“ im Dienste der Frauenförderung (siehe: „Schockgefrostet“). Auch in Sachen Diversity macht der Global Social Media Leader Schlagzeilen. Am Stammsitz in Kalifornien (Menlo Park, Kreuzung Willow Road und Hacker Way), wird die Regenbogenflagge mit dem Facebook-„f“ in der Mitte gehisst und die Revolution kann beginnen. Zunächst für alle, die das Netzwerk im amerikanischen Englisch nutzen, dann folgt England und seit Neuestem, genau gesagt seit Anfang November, auch die deutsche Facebook Community.

Wer sich beim englischsprachigen Facebook anmeldet, sieht sich nicht mehr nur mit der – zumindest von Fall zu Fall schwer entscheidbaren – Frage konfrontiert, ob man weiblichen oder männlichen Geschlechts sei. In Ergänzung der alteingesessenen beiden Gender-Optionen gibt es nun den Button „Custom“. „Custom“ heißt soviel wie Sitte, Brauch, Usance, aber auch maßgeschneidert, spezialgefertigt und benutzerdefiniert. „Zoll“ und „Kundschaft“ gehören auch noch dazu. Wer „Custom“ anklickt, ruft ein zumindest quantitativ imponierendes Scroll-Menü auf, das diverse Möglichkeiten geschlechtlicher Kategorisierung anbietet. Im amerikanischen englisch sind es 58 Optionen, die Briten haben 70. Die maßgeschneiderten Auswahlmöglichkeiten sind laut Facebook in enger Absprache mit „leading LGBT advocacy organizations“ entstanden. Bei den 60 deutschsprachigen Vorgaben, die unter „benutzerdefiniert“ aufrufbar sind, hat der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands mitgewirkt. Zusätzlich zu den erweiterten Möglichkeiten der geschlechtlichen Zuordnung, können geneigte Nutzer_innen noch wählen, welche Pronomen sie bevorzugen: männlich – weiblich – neutral. Außerdem ist wählbar, welchem Kreis von friends die Selbstzuordnungen zugänglich sein sollen.

Das neueste Geschenk aus dem Mutterland der identity politics ist mal wieder hin- und herreißend. Einige der angebotenen Kategorisierungen muten merkwürdig willkürlich an. Aber vielleicht gilt diese Wahrnehmung auch nur für Leute, die mit den sprachlichen Feintunings im Reich der Gender Diversität nicht vertraut sind. Dazulernen lässt sich zweifellos immer. Dennoch ist es eine echte Herausforderung, „A-Gender“, „Gender Nonconforming“ oder „Gender Questioning“ nicht nur für kategorisch ausgedrücktes Unbehagen, sondern ernsthaft für „Gender Options“ halten zu sollen. Aber schon kursieren hilfreiche Erläuterungen im Netz, wie etwa die von Sam Killerman aus dem Social Justice Advocate´s Handbook: A Guide to Gender. Hier legt Killerman, der sich selbst als „social justice comedian“ bezeichnet, eine nützliche Handreichung vor mit einem Fokus auf „enjoyable learning“.

Geschlechtsoptionen

Die Problematisierung eines binären Ordnungssystems der Geschlechtszugehörigkeit, das Menschen, die sich psychisch und körperlich darin nicht wiederfinden können, nötigt und ihnen Gewalt antut, ist richtig. Auch der deutsche Ethikrat, ein von der Bundesregierung und dem Bundestag eingesetztes Gremium, hat sich im vergangenen Jahr endlich mit der Frage der zweigeschlechtlichen Normierung befasst. Er schlägt in seiner im Februar 2012 vorgelegten Stellungnahme vor, das Personenstandsgesetz zu ändern und eine dritte Geschlechtsoption einzuführen, zum Beispiel: „männlich“ – „weiblich“ – „anderes“. Gegen dieses Votum beharrt die Intersex-Bewegung zu Recht darauf, dass eine dritte Option diskriminierungsfrei zu sein habe. Alle Kategorien, die per definitionem an die zweigeschlechtliche Norm gebunden blieben (zum Beispiel „anderes“) scheiden aus ihrer Sicht aus, da sie herabsetzende Wirkung haben. Als Beispiele für eigenständige Kategorien werden genannt „Zwitter“ oder auch „Intersex“. Andere plädieren dafür, den Geschlechtseintrag als entbehrlich anzusehen und ihn ganz aufzugeben. Mit diesem Plädoyer lässt sich bruchlos an Vorstellungen einer „genderless society“ anschließen, die eine (de)konstruktivistisch-(queer)feministische Steigerungsform von „gender blindness“ darstellt. Ist im letzteren Fall noch etwas da, von dem abgesehen werden kann und sollte, so soll im ersteren Fall im Endeffekt alles wegfallen, was überhaupt wie Unterscheidungen nach Geschlecht aussieht.

Ich habe Vorstellungen von der Abschaffung der Geschlechtsunterscheidung schon immer für eine politisch wenig aussichtsreiche „Kopfgeburt“ und außerdem für Hybris gehalten. Das hat in den heißen Tagen der Sex/Gender-Debatte zu manchem Strauss mit (de)konstruktivistischen Weggefährtinnen geführt, obwohl ich den durchdachten Konstruktionsgedanken gegen biologische Essentialismen immer verteidigt habe und verteidige. Die Rede von einer „genderless society“ evoziert aber bei mir eher dystopische als utopische Assoziationen. Zweifellos muss es darum gehen, den engen Verweisungszusammenhang von Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität und über Prozesse des „Othering“ definierten exklusiven Auslegungen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ weiter aufzuklären, zu öffnen und zu verschieben. Dass das geht, wenn auch langsam und oft im Rhythmus einer Echternacher Springprozession, lässt sich beobachten. Selbst an den unzureichenden Bemühungen des Ethikrats. Auch Judith Butler, die oft so gelesen wird, als behaupte sie einen geradezu deterministischen Zusammenhang von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität betont vor allem in jüngeren Texten die Diskontinuitäten zwischen Regulierungen von Geschlechtszugehörigkeit, den damit verbundenen Eigenschaftszuschreibungen und der Regulierung von Sexualität. Damit öffnet sich ein weites Feld für politische Interventionen.

Wenn ich also – trotz mancher Kritik an der historischen Form heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit – Bestrebungen einer Abschaffung der Geschlechtskategorisierung nicht teile, was begründet dann meine Vorbehalte gegen die nun von Facebook vorgeführte Alternative einer Pluralisierung von Gender?

True, authentic selves?

Man könnte sich fragen, warum Facebook nicht auf den Zug der Advokat_innen der Abschaffung von Geschlechtsunterscheidungen aufgesprungen ist, zum Beispiel durch unaufwändiges Streichen der Vorgaben „male“/ „female“? Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand. Warum sollte ein Konzern, der mit BIG DATA und bewerbbaren Profilen Profit macht, freiwillig auf kostenlos zur Verfügung gestelltes Algorithmenfutter verzichten? Dass die Social Media dagegen irgendwann auf den Zug identitätspolitischer Initiativen aufspringen würden, die an der Proliferation von „voice“ , „visibility“, „identity“ und „representation“ arbeiten, war zu erwarten. Fast möchte ich darauf wetten, dass die nächste Stufe der Expansion sich auf das informationell vielversprechend polymorphe Gebiet des Sexuellen erstrecken wird. Zwar beteuerte eine Facebook-Sprecherin, dass die Angaben zu den Gender-Identifikationen nicht ausgewertet und kommerziell genutzt würden – aber: wer mag das glauben? Studierende in Wien, denen ich neulich nach einem Vortrag von Facebooks guten Vorsätzen zum Datenschutz erzählte, brachen jedenfalls in spontanes Hohngelächter aus.

Lassen sich die Anliegen der LGBTQ-Verbände, die Facebook bei der Erstellung einer politisch einigermaßen korrekten Kategorienliste behilflich waren, nachvollziehen, ohne zugleich die verschachtelte Facebook Intelligibilität unkritisch feiern zu müssen?

Wahrscheinlich war ich zu lange nicht mehr in den USA, um nicht über die aufdringlichen Floskeln zu stolpern, mit denen das Unternehmen sein Unternehmen der Gender-Diversifikation anpreist: „We want you to feel comfortable being your true, authentic self“, „we’re proud to offer a new custom gender option to help you better express your own identity on Facebook“, „to be transparent about who you really are“. Auch in den Glückwünschen, die Lobby-Gruppen und Einzelne auf der Diversity-Seite posteten, wimmelt es von „authentic selves“, und „true and unique identities“ die nur darauf gewartet haben, mit Hilfe von Facebook endlich intelligibel, d.h. (an)erkennbar zu werden. Dass es berechtigte Bedürfnisse gibt, sich nicht verstecken zu müssen und ohne Angst vor Diskriminierung leben zu können, ist evident. Aber in welchen Formen und Kontexten das intelligibel-Werden umgesetzt wird, muss reflektierbar sein, ohne sogleich als fortschrittsfeindlich abgewehrt zu werden.

Ist das, was jetzt als „wahres Selbst“, als „eigene Identität“ und „Authentizität“ beschworen wird und was fortan mit einem Klick auf ein Kästchen manifestiert werden kann, das, was zuvor unausgedrückt blieb? Ich wittere bei dieser Art der Formatierung und ihrer Begleitrhetorik eher eine Variante jener Geständnis- und Subjektivierungsdiskurse, wie sie Foucault in „Sexualität und Wahrheit“ historisch nachgezeichnet hat. Heute wirken, und das ist der Fortschritt, Organisationen der Betroffenen an den Kategorisierungen mit. In den Authentifiktionen der Gegenwart verbinden sich Erfahrungen von Diskriminierung und Befremdung auf schwer zu entwirrende Weise mit Gruppismen, Lifestyles und Individualismus. Dass die innere Logik mancher Bezeichnungen kaum nachvollziehbar ist, deutet zudem weniger auf mangelnde „Dudenfertigkeit“, wie ein Sprecher des LSVD meint, sondern eher auf einen gewissen Kategorisierungsüberschuss hin, der von anderen Motiven getrieben ist als von dem Bedürfnis nach sprachlicher Adäquanz.

Irritation als Identitätsform

Was soll das Intelligible von Kategorien wie „Gender Variant“, „Neither“, „Non-binary“ oder „Other“ sein? Was gibt es da zu erkennen oder anzuerkennen außer in den Nuancen schwankende Ausdrücke von Irritation? Die Facebook-Kategorisierung verwandelt Irritation in eine Identitätsform. Diese verleiht der Irritation Ausdruck und lässt sie zugleich verschwinden.

Die Sachlage ist, zugestandenermaßen, kompliziert und im Blogformat nicht im Einzelnen auszuleuchten. Wie soll es das auch sein? Immerhin haben Judith Butler und Athena Athanasiou jüngst ein ganzes Buch gebraucht (Die Macht der Enteigneten, 2014), um Widersprüche wie die zu umkreisen, die sich sofort aufdrängen, sobald man das freundliche Diversifizieren bei Facebook auf der Folie der neoliberalen Gouvernementalität der Gegenwart betrachtet. Diese, so Athena Athanasiou „investiert – politisch, psychisch und ökonomisch – in die Herstellung und Gestaltung von Lebensformen: Sie ‚macht‘ leben, indem sie Anregungen bereitstellt, das ‚eigene‘ Leben zu inszenieren.“ (S. 51) Athanasiou liest derartige Verführungen zur Sichtbarkeit als Formen der Ent-eignung. Aber es gibt auch noch einen anderen Gesichtspunkt der Kritik: der raum-greifende Charakter der neuen Form der Netz-Intelligibilität. Angesichts des durch den Global Social Media Leader verbreiteten Spektrums kategorialer personae von „authentic selves“ drängen sich Parallelen zu Judith Butlers Bemerkungen zur Dialektik von Freiheit und Unfreiheit auf: „Die Propagierung bestimmter, kulturell geprägter Vorstellungen von ‚Freiheit‘, verbunden etwa mit einem hohen Maß an Sichtbarkeit oder diskursiv hervorgehobener ‚outness‘, exportiert in gewisser Weise Konturen der Freiheit aus der Ersten Welt. (…) Verwunderlich ist (…), welche Art kultureller Beschränktheit uns (…) davon abhält zu fragen, wie jene Normen, die in manchen Situationen im Namen der Freiheit wirken, sich zu Vehikeln eines Kulturimperialismus und der Unfreiheit verkehren können.“ (S. 74)

Die hier nur angedeuteten Widersprüche lassen sich nicht schlichten. Und mir fällt zu diesem Blog kein besserer Schluss ein als noch einmal Judith Butler zu zitieren mit ihren bedenkenswerten Überlegungen zu den Gratwanderungen zwischen Nicht-Intelligibilität und einer „Überfrachtung“ mit Intelligibilität: „Dabei geht es nicht darum, neue Formen von Intelligibilität zu instituieren, die ihrerseits zur Grundlage des (Selbst)Erkennens werden. Und ebenso wenig geht es darum, Nicht-Intelligibilität um ihrer selbst willen zu feiern. Der Punkt ist vielmehr, unter widrigen Umständen gemeinsam mit anderen voranzukommen, in einer Bewegung, die sowohl Mut als auch kritische Praktiken erfordert, eine Form des Verhältnisses zu Normen und zu anderen, die sich nicht in einem neuen Regime niederlässt.“ (S. 100)

Axeli Knapp